Mit freundlicher Genehmigung des Neuen Rufs
Von Peter Müntz
Hamburg braucht 2016 Platz für 40.000 Flüchtlinge
Bostelbek. Da gab sich Christoph Birkel, Geschäftsführer des hit-Technologiezentrums in Bostelbek, ganz staatsmännisch. Angesichts der politischen Lage in Syrien, die zur Zerreißprobe europäischer Politik werde, seien wir in Deutschland moralisch verpflichtet, zu helfen. „Deshalb müssen wir es schaffen, egal was es kostet.“ Mit diesem Statement hat Birkel am Mitwochabend den hit Inno-Talk 2016 eröffnet. Gäste waren diesmal Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) sowie der Journalist Wolfgang Bauer, 1970 in Harburg geboren. Er schreibt aktuell für die „Zeit“, hat aber auch Berichte unter anderem für „Stern“ und „National Georgraphic“ verfasst und ist dafür mit zahlreichen Journalistenpreisen ausgezeichnet worden.
Aktuell ist er regelmäßig zwischen Ägypten und Syrien als Kriegsreporter unterwegs. Er las an diesem Abend Passagen aus seinem Buch „Über das Meer.“ Darin schildert er anschaulich seine Erlebnisse als Begleiter einer syrischen Flüchtlingsgruppe und gewährt Einblicke in eine ausgeprägte „Flüchtlingsindustrie“, wie sie kaum bekannt ist. Die etwa 150 geladenen Zuhörer hingen gebannt an seinen Lippen.
Zuvor hatte Birkel mehr Empathie für die Flüchtlinge eingefordert sowie Verständnis für ihren Leidensweg. „Sie vertrauen bei uns auf Schutz, den müssen wir ihnen bieten“, sagte er. Das „Ja, wir schaffen das“ ergänzte er durch den nicht ganz unwichtigen Satz „aber man muss uns auch sagen wie.“ Die AfD und die CSU könnten jedoch nicht die Lösung sein, denn diese Parteien würden lediglich zur Verrohung der Gesellschaft beitragen, fuhr Birkel fort. „Die deutsche und die europäische Gesellschaft darf darüber nicht auseinanderbrechen“, hofft er. Vielmehr müssten wir unsere Köpfe frei machen für Menschen aus einem anderen Kulturkreis.
Olaf Scholz betonte zunächst die Verpflichtung von USA, Saudi Arabien und Iran sowie Europa in der Region. Die Staatengemeinschaft müsse diesen Konflikt beilegen können und die Ursachen für die Flucht reduzieren, erwartet er. Das brauche allerdings seine Zeit.
Aktuell erinnere ihn die politische Lage jedoch eher an den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), der verbrannte Erde hinterlassen und ganze Landstriche entvölkert hatte. Und: 1 Million Flüchtlinge dürften ‒ wenn man es richtig mache ‒ für ein Land wie Deutschland eigentlich keine Bürde sein.
Gerade angesichts dieser Herausforderung funktioniere Europa nur als Gesamtheit. „Deshalb brauchen wir auch eine gesamteuropäische Lösung.“ Bereits als sich die Flüchtlingskrise anbahnte, hätte Europa gemeinsam reagieren müssen, blickte Scholz zurück. Darüber zu lamentieren, sei jetzt zu spät und es gelte, den Blick nach vorne zu richten. Sichere Grenzen und die Vereinbarung von europaweiten Flüchtlings-Kontingenten seien ein gangbarer Weg. Dabei dürfe die Freizügigkeit in Europa nicht aufs Spiel gesetzt werden. Im Gegenteil: Die Grenzen müssten gemeinsam gesichert werden. Scholz weiter: Die so genannten hot spots seien zwar eine gut gemeinte Einrichtung, allerdings müsse auch geklärt werden, wie man dort wieder rauskommt. Fakt sei, dass Hamburg in diesem Jahr weitere 40.000 Plätze in Unterkünften benötige ‒ so viel, wie man in den vergangenen drei Jahren in Hamburg geschaffen habe. „Zur Zeit haben wir Ideen für 16.000 Plätze, verteilt über die ganze Stadt“, führte er aus ‒ „eine Aufgabe, die wir schultern müssen.“ Zehntausende Obdachlose könne und dürfe sich Hamburg nicht leisten. Bisher habe sich Hamburg der Herausforderung gut stellen können. Weder seien Turnhallen beschlagnahmt worden, noch habe die Arbeit in Kitas und Schulen gelitten, „denn wir haben 600 Lehrer und Pädagogen eingestellt“, ohne dass Hamburg dabei finanziell überfordert gewesen wäre.
Scholz bedauert, nur allzuoft mit einem Bezirkssekretär der SED aus der DDR verwechselt zu werden, der über die Inanspruchnahme oder Nicht-Inanspruchnahme von Flächen für die Unterbringung von Flüchtlingsunterkünften entscheide. Hier werde unverändert nach dem gängigen B-Plan-Verfahren vorgegangen, auch wenn das lange dauere. Sein Wunsch an die Hamburger: „Machen Sie sich meinen Kopf und fragen Sie sich: „Was tun?“ Er sei sicher, dass wir das schaffen, allerdings sei es eine hakelige Angelegenheit. Dabei lasse er sich von Kants Ausspruch leiten: „Den Menschen müssen wir in jedem Einzelnen sehen.“
Wolfgang Bauer gab seinen Zuhörern abschließend noch eine überraschende Erkenntnis mit auf den Weg: Die Flüchtlinge aus Syrien kämen nicht wegen des Krieges, sondern wegen der Bombardements. In Europa angekommen, stünden viele vor einem wenig bekannten Problem: Ihre gesamte Kraft hätten sie für die Flucht verwendet, die Kraft zum Ankommen aber fehle nun.